Freundschaftliche Verflechtungen und ein einsamer Nager

Eine Kurzgeschichte von Denise Schynol

Die 9-jährige Martha war auf magische Weise in einer fantastischen Welt gelandet. Als freundliche Hexe hatte sie dort in kürzester Zeit viele Abenteuer erlebt. Nach der Aufregung der ersten Wochen sollte der heutige Tag ruhig und entspannt werden.

Als erstes besuchte Martha ihre Freundin Fayola. Es gab ein üppiges Frühstück und danach eine neue Frisur für das Mädchen. Fayola hatte im Laufe weniger Stunden Marthas Haare zu kunstvollen Zöpfen geflochten. Die junge Hexe war ganz vernarrt in ihr neues Aussehen und beschwingt machte sie sich auf den Weg ins Tal der verlorenen Dinge. Martha liebte es, dort zu stöbern, und war schon mit der Hexe Brighid und natürlich mit Mai Thư und Aylin dort gewesen (doch das ist eine andere Geschichte).

In dem Tal fanden sich alle verlorenen, verschwundenen oder verlegten Dinge. Martha umrundete ein Meer aus einzelnen Socken, ließ eine steile Kofferformation links liegen und entdeckte funkelnde Schatzecken, in denen verloren gegangene Schmuckstücke ein zweckloses Dasein fristeten. Auf ihrem Streifzug sah sie Büschel verlorener Nerven, die nervös zuckten, und haufenweise Geduld, Fäden und Handys.

Martha kletterte auf einen Stapel Portemonnaies, doch der geriet ins Wanken. Die junge Hexe verlor das Gleichgewicht, rutschte einen Kleingeldhang hinab, plumpste durch eine Insel aus aufgespannten Regenschirmen und landete in einer Höhle. Martha schaute sich um. Einige Meter entfernt sah sie ein Schimmern. Es kam von einer Taschenlampe. Das Mädchen knipste die Lampe aus, doch sofort ertönte Protest.

„Hey, mach sofort das Licht wieder an“, forderte eine quäkige Stimme.

„Oh, Verzeihung“, sagte Martha und schaltete die Lampe an.

„Gut. Und jetzt gib mir etwas zu essen oder lass mich in Ruhe.“

Wie unfreundlich, dachte Martha, kramte trotzdem in ihrem Rucksack und fand etwas Obst. Sie legte es vor sich hin. Ein kleines Tier kam, schnupperte, begann zu knabbern und schließlich zu erzählen. Es hieß Haffel und war ein Nacktmull – genauer: ein haariger Nacktmull. In seiner Kolonie war es dem Nager nicht gut ergangen. Sein Aussehen machte den anderen Nacktmullen Angst, ließ sie wütend werden und brachte sie dazu, gemeine Sachen zu sagen. Als Haffel das nicht länger aushalten wollte, verkroch er sich in einem verlassenen Tunnel im Nacktmullbau. Dort war er auf ein Tunnelsystem gestoßen, durch das er ins Tal der verlorenen Dinge gelangt war. Hier lebte er nun ganz allein; die Taschenlampe war seine einzige Unterhaltung.

Martha tat der haarige Nacktmull leid. Sie strich ihm sanft über den Rücken.

„Deine Haare sind toll“, bemerkte das Mädchen. „Darf ich dir ein paar Zöpfe flechten?“

Haffel war einverstanden. Martha begann zu flechten und das Nagetier berichtete ihr dabei allerlei Interessantes über Nacktmulle, dass sie wie Ameisen in Kolonien lebten und eine Königin hatten. Die Begeisterung über seine eigene Spezies war ansteckend. Haffel liebte es einfach, ein Nacktmull zu sein.

„Du bist super, Haffel. Und du siehst sehr schön aus“, sagte Martha und hielt dem Nager einen Spiegel hin.

„Oh ja, du hast recht“, gab Haffel erstaunt zu. „Ich sehe wirklich chic aus!“ Er schaute sich von allen Seiten an. „Ich bin ein prächtiger Nacktmull mit Haaren – und das sollten alle wissen. Ich gehe zurück“, verkündete Haffel. „Und zwar sofort!“

Der Nacktmull scharrte und buddelte, bis er einen Tunnel freigelegt hatte, der groß genug war für ein 9-jähriges Mädchen.

„Folge mir“, sagte er zu Martha. Dann ging alles sehr schnell, denn der Tunnel entpuppte sich als Rutsche, die direkt vor einem Haufen im Bus vergessener Turnbeutel endete. Unbeschadet landete das Mädchen darauf. Es sah sich um: Wo war Haffel? Er musste einen anderen Weg genommen haben, um direkt in seine Kolonie zurückzukehren. Martha lächelte. Sie spürte, dass es ihm gut gehen würde.

Alles, was Haffel ihr über Nacktmulle erzählt hatte, rauschte durch ihren Kopf. Plötzlich wusste Martha, wo sie den Rest des Tages verbringen wollte: in der Bibliothek! Dort fand sie noch mehr über diese famosen Nagetiere heraus, und sie zog ernsthaft in Erwägung, einen Nacktmull-Fanclub zu gründen.

 
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